Wenn Blicke töten können – Caravaggios „Haupt der Medusa“ (2024)


Wenn Blicke töten können – Caravaggios „Haupt der Medusa“ (1)
Caravaggio: Haupt der Medusa (1597/98); Florenz, Uffizien (für die Großansicht einfach anklicken)

Der antike Dichter Oviderzählt in seinen Metamorphosen (IV,753-803), dass die wunderschöne Medusa, eine der drei Gorgonen-Schwestern, vonPoseidon im Tempel der Athene vergewaltigt wird. Athene, Zeugin der Tat,bestraft daraufhin – nicht den Täter, sondern Medusa, indem sie sie in einhässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren, langer Zunge und glühenden Augenverwandelt. Fortan genügt ein Blick in ihre Augen, um versteinert zu werden.Dem Göttersohn Perseus gelingt es, sich der schlafenden Medusa zu nähern undihr den Kopf abzuschlagen – er nutzt dazu eine Tarnkappe, einen Spiegelschildund geflügelte Schuhe. Mit dem Medusenhaupt an seinem Schild, dessen versteinerndeWirkung anhält, besiegt Perseus danach zahlreiche Feinde und schenkt den Kopfschließlich Athene.

Caravaggio(1571–1610) hat das soeben abgeschlagene, schlangenbesetzte Haupt der Medusa1597/98 auf einen Prunkschild gemalt (genauer: auf ein schildförmiges, mitLeinwand überzogenes Stück Pappelholz). In Auftrag gegeben wurde das Werk von Kardinaldel Monte als Geschenk für Ferdinando I.; es war für die neue Waffenkammer desGroßherzogs bestimmt. Der Kardinal gehörte zu den frühen Förderern Caravaggios –Ende 1595 hatte er den Maler für fünf Jahre als Mitglied des Haushalts inseinen Palazzo aufgenommen.

Mund und Augen derMedusa sind weit aufgerissen, Blutströme schießen aus dem Hals, ihr letztergrauenhaft verzerrter Blick erscheint wie eingefroren, „fixiert den Betrachtermit eindringlicher Direktheit und droht diesen seinerseits zu versteinern“(Schütze 2009, S. 72). Was Caravaggio auf seinem Schild zeigt, ist das Spiegelbildder Medusa, in dem die Sterbende sich selbst erblickt – Perseus nutzte ihn, umsein Gegenüber nicht direkt ansehen zu müssen. Um die Verkürzungen desSpiegelbildes auf dem konvexen Malgrund überzeugend abbilden zu können, dürftesich der Maler eines schildförmigen Spiegels bedient haben (eines „scudo aspecchio“), der zu seinem Hausstand gehörte und auch in dem Gemälde Die Bekehrung Maria Magdalenaserscheint (siehe meinen Post Erleuchtet von göttlicher Gnade“). Wahrscheinlich hat Caravaggio für das Medusenhaupt sein eigenes Antlitzin diesem Spiegel studiert.

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Caravaggio: Die Bekehrung Maria Magdalenas (1598/99); Detroit, The Detroit Institute of Art

Der römische Barockmalermaß sich bei der Wahl seines Themas mit keinem Geringerem als Leonardo da Vinci(1452–1519): Der berühmte Renaissance-Künstler hatte nämlich gleichfalls einenmit einem Medusenhaupt geschmückten Schild geschaffen, der zu den mediceischenSammlungen gehörte, jedoch seit 1587 verschollen war. Caravaggios Medusenschildsollte den von Leonardo ersetzen – und natürlich wollte der junge Künstler dengroßen Meister übertreffen. Zugleich erinnerte Caravaggio mit seinemabgeschlagenen Gorgonenhaupt an Benvenuto Cellins bekannte Bronzestatue des Perseus auf der Pizza della Signoria inFlorenz (siehe meinen Post „Cellinis Medusentöter“).

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Benvenuto Cellini: Perseus (1554-1554); Florenz, Piazza della Signoria

Caravaggio stellt mitseinem Schild nicht nur den Medusa-Mythos dar, sondern demonstriert auch dieWirkmacht seiner Malkunst: Er hat den entsetzten, immer noch versteinerndenBlick der Medusa im Spiegel des Schildes festgehalten „und dabei mit solch dramatischerLebendigkeit versehen, dass der staunende Betrachter vor Schrecken undBewunderung vor dem Bild erstarrt“ (Schütze 2009, S. 72).

Giambattista Marino (1569–1625)hat das Gemälde in einem Madrigal seiner Galeria(1619) beschrieben und als Allegorie der militärischen Tugenden Ferdinandos de’Medici gedeutet:

Latesta di Medusa in una rotella

diMichelagnolo da Caravaggio

nellaGaleria del Gran Duca di Toscana

Hor quai nemici fian, che freddi marmi

Non diuengan repente

In mirando, Signor, nel vostro scudo

Quel fier Gorgone, e crudo,

Cui fanno orribilmente

Volumi viperini

Squallida pompa e spauentosa ai crini?

Ma che! Poco l’armi

A voi sia d’huopo il formidabil mostro,

Che la vera Medusa è il valor vostro.

Das Haupt der Medusa auf einem Schild

von Michelangelo da Caravaggio,

in der Galerie des Großherzogs von Toskana

Nun, was für Feindewären das, die nicht sofort

zu kaltem Stein würden,

wenn sie, Herr, aufeurem Schild

jene stolze und grausameGorgo betrachten,

der auf schrecklicheWeise

ein Gewirr von Vipern

einen hässlichen undfurchtbaren Haarschmuck bildet?

Doch was! Von geringeremNutzen

ist euch im Kampf dasschreckliche Ungeheuer:

denn die wahre Medusaist euer Mut.

(übersetzt von Christiane Kruse und RainerStillers; aus Giambattista Marino, La Galeria. Zweisprachige Auswahl.Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009, S. 50/51)

Eine Enthauptung mitschreckensweiten Augen und aufgerissenem Mund hat Caravaggio etwa zeitgleichauch in seinem Gemälde Judith undHolofernes wiedergegeben (siehe meinen Post „Barock-Splatter“). BeideBilder belegen das Interesse des Künstlers an heftigen Affekten, die sichbesonders im Gesichtsausdruck zeigen; ein erstes Beispiel hierfür ist sein frühesWerk Jüngling, von einer Eidechsegebissen.

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Caravaggio: Judith und Holofernes (1598/99); Rom, Galleria Nazionale dArte Antica
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Caravaggio: Jüngling, von einer Eidechse gebissen (1593/94); Florenz, Fondazione Longhi

Constanze Hager hat jüngst noch eine alternative Deutung zu Caravaggios Medusenschild vorgestellt: Der Maler zeige nicht die gespiegelte Enthauptung Medusas, sondern das Gorgoneion selbst, also das tatsächliche Medusenhaupt auf dem Schild der Göttin Athene. „Wäre eine Spiegelung gemeint, ließe sich erwarten, dass die Umgebung, in der die Gorgo sich bei ihrer Enthauptung befand, mitgespiegelt würde“ (Hager 2016, S. 48); die konvexe Oberfläche des Malgrundes müsste außerdem, so Hager, ein deutlich konvex verzerrtes Spiegelbild zur Folge haben. Da keine Details darauf hinwiesen, dass es sich bei Caravaggios Gemälde um ein spiegelndes, metallisches Schild handele, wäre es naheliegend, es als das hölzerne Schild zu betrachten, das es tatsächlich ist“ (Hager 2016, S. 49). Das abgebildete Medusenhaupt sei daher als plastischer Kopf zu verstehen, der auf einen grünen Schild geheftet ist und auf diesen einen Schatten wirft“ (Hager 2016, S. 50). Durch Schatten und Blutwunde verdeutliche Caravaggio, dass es sich bei dem Gorgonenhaupt um einen abgetrennten Kopf handelt.
Caravaggios Medusa ist – wie könnte es anders sein –auch tiefenpsychologisch interpretiert worden: In dem kurzen Aufsatz „DasMedusenhaupt“ von 1922 deutet SigmundFreud den abgeschlagenen Kopf der Gorgo als Symbol für die männlicheKastrationsangst. Die Zahnreihe im weit geöffneten Mund wiederum erinnert anden Mythos der vagin* dentata(„bezahnte vagin*“), den Freud ebenfalls mit der Kastrationsangst in Verbindungbringt.

Literaturhinweise

Ebert-Schifferer, Sybille: Caravaggio. Sehen –Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk. Verlag C.H. Beck, München 2009, S.103-106;
Hager, Constanze: Caravaggios Medusenschild von 1598 – ein Gorgoneion? In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 97 (2016), S. 62;

Harten, Jürgen/Martin, Jean-Hubert (Hrsg.): Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, S. 256-257;
Hibbard, Howard: Caravaggio. Thames and Hudson,London 1983, S. 67-69;

Schütze, Sebastian: Caravaggio. Das vollständigeWerk. Taschen Verlag, Köln 2011.

(zuletzt bearbeitet am 4. Juli 2020)

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